Folkert Fehr
ist niedergelassener Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit Schwerpunkt Neuropädiatrie und arbeitet hauptberuflich in den Gemeinschaftspraxen für Kinder- und Jugendmedizin in Sinsheim, ist Vorstandsmitglied von PädNetzS und wissenschaftlicher Berater der PädNetz Akademie, Vorstandsmitglied der DGAAP sowie Beauftragter für Aus-, Fort- und Weiterbildung des BVKJ Landesverbands Baden-Württemberg.
S.Sch.: Herr Fehr, Sie engagieren sich für das Thema Aus- & Weiterbildung in der Deutschen Gesellschaft für allgemeine ambulante Pädiatrie (DGAAP), im BVKJ und bei PädNetzS. Außerdem gehören Sie zu den Initiatoren der PädNetz Akademie, für die Sie weiterhin alswissenschaftlicher Berater tätig sind. Wie sah Weiterbildung zu Ihrer Assistenzzeit aus und wie verlief Ihre eigene Weiterbildung?
F.F.: Weiterbildung zu meiner Weiterbildungszeit war eine rein klinische Angelegenheit. Im Praktischen Jahr habe ich das Wahlfach Kinder- und Jugendmedizin an der University of New Mexico in Albuquerque, USA, belegt. Nach meinem Studium begann ich in der Kieler Kinderkardiologie, wo ich überraschenderweise durch meine erste Bewerbung gleich eine Stelle als Arzt im Praktikum angeboten bekam, die ich auch annahm. Dort kam es schnell zu Konflikten. Der zuständige Oberarzt war nur frühmorgens oder spätabends zu sprechen. Arbeit bis in die Nacht wurde selbstverständlich erwartet. Dazu fühlte ich mich immer wieder überfordert, zum Beispiel mit dem Auftrag, schwer herzkranke Kinder als Transportarzt zu begleiten. Ich hatte keine Ahnung davon und entsprechend Sorge, Zwischenfälle nicht behandeln zu können. Meine Frau stellte mich vor die Wahl: sie oder meine AiP-Stelle. Damit machte sie mir die Entscheidung leicht, meine Kündigung einzureichen. Zum Glück bekam ich nach einer kurzen Phase der Arbeitslosigkeit eine Stelle in der Frauenklinik Eutin. Dorthin konnte ich zwischenfahren und gut begleitete Erfahrungen in der Geburtshilfe machen. Außerdem entband ich dort unser erstes Kind, Lennart. Der Chefarzt schaute nur gelegentlich vorbei, ob denn alles gut laufe. Hebamme Andrea und meine Frau Wanda machten die Hauptarbeit. Es lief alles sehr gut. Nach sechs Monaten Geburtshilfe sollte ich mehr im OP eingesetzt werden. Das entsprach leider nicht meinen Talenten, so dass ich mich weiter bewarb und eine Stelle in der Neuropädiatrie der Uni Kiel annahm. Danach folgten wieder etwas Arbeitslosigkeit und sechs Monate Mutterschutzvertretung in Neumünster, wieder in der Nähe zum Zwischenfahren. Zu Beginn des dritten Weiterbildungsjahres ging es für mich trotz zahlloser Bewerbungen im Krankenhaus auf einmal nicht mehr weiter.
Das war damals aufgrund der hohen Bewerberzahl in der Kinderheilkunde kein Einzelschicksal.
Stimmt, dennoch kam für mich die Arbeitslosigkeit zur Unzeit. Wir hatten nun schon zwei kleine Kinder, und ich wollte mich gern weiterbilden. Mein Schwiegervater, damals Inhaber einer großen Kinder- und Jugendarztpraxis in Sinsheim in Baden, verfügte über eine Weiterbildungsbefugnis und schlug mir vor, für ein Jahr in seine Praxis zu kommen. Ich zögerte zunächst aus Sorge, im Anschluss nicht mehr im System Fuß fassen zu können. Und „das System“ war für mich das Krankenhaus. Die gängige Vorstellung damals war, dass das Krankenhaus die Wiege der Weiterbildung ist.
Von dieser Vorstellung sind Sie dann abgekommen?
Meine Frau und ich entschieden uns, nach Sinsheim zu ziehen. Mein Schwiegervater besaß bereits Routine in der Weiterbildung, denn in den neunziger Jahren kamen viele osteuropäische Ärzt:innen nach Deutschland, die von der Ärztekammer die Auflage erhielten, ein Jahr unter Befugnis zu arbeiten. Da mein Schwiegervater fließend Russisch sprach, arbeiteten in seiner Praxis immer wieder Anerkennungsassistent:innen aus der ehemaligen Sowjetunion. Ich habe so ein Jahr gleichzeitig mit einer Anerkennungsassistentin in der Kinder- und Jugendarztpraxis meines Schwiegervaters zugebracht. Die Arbeit dort und der Kontakt zu den kleinen Patient:innen und ihren Familien hat mir immensen Spaß gemacht und brachte zudem die Erkenntnis ein, dass Weiterbildung nicht organspezifisch vonstatten gehen, sondern sich an einem ganzheitlichen Ansatz orientieren sollte. Denn der Großteil der Vorstellungsanlässe, zu denen Kinder und Jugendliche in ärztliche Behandlung kommen, fällt in den Bereich der ambulanten Grundversorgung.
Sie sind danach wieder zurück in die Klinik
Weil es nach diesem Jahr doch überraschend weiterging. Ich konnte eine Stelle als Arzt im Zivildienst im Städtischen Krankenhaus Braunschweig antreten und wurde nach einem Jahr übernommen. Einen Großteil verbrachte ich dort in der Kinder-Neurologie. Diese habe ich nach meiner Facharztprüfung und dem Weggang des damaligen Neuropädiaters interimsmäßig noch einige Zeit geleitet. Noch ohne Schwerpunktprüfung.
Wann haben Sie sich niedergelassen?
Das war 2002. Mein Schwiegervater hatte mich immer wieder vorsichtig angesprochen, nun wurde er deutlich: Demnächst oder nie. Da war er Mitte siebzig. Wegen meiner Leidenschaft für Kinderneurologie, galt mein besonderes Interesse diesen Kindern mit großen Entwicklungsbedürfnissen, doch ich stellte fest, dass ich die Patientenzahlen, die mir mein Schwiegervater hinterlassen hatte, nicht mit meinem Anspruch an Behandlungstiefe in Einklang bringen konnte, ich hatte einfach viel zu viel Arbeit.
Weil sich die Arbeitsbedingungen verändert hatten?
Auch mein Praxisvorgänger hatte die Praxis als Einzelarztbetrieb geführt. Er arbeitete jedoch nicht allein, sondern wurde durch seine Frau, die ebenfalls Ärztin war, unterstützt. Außerdem wurden zu seiner Zeit die Patient:innen in der Regel mit fünf Jahren, nach der U9, bereits in die Allgemeinmedizin entlassen. Mit Ausnahme von schwerkranken Kindern, die des Facharztes bedurften. Und nicht zuletzt hatte sich die ambulante Pädiatrie inzwischen erheblich vertieft. Viele Vorstellungsanlässe, bei denen vor dreißig Jahren noch ein Krankenhausaufenthalt notwendig gewesen wäre, werden heute ambulant in den Kinder- und Jugendarztpraxen versorgt. Das setzt kompetentere nichtärztliche Mitarbeiter:innen voraus, aber auch kompetentere Eltern, die aufgeklärt und angeleitet werden müssen. Überhaupt die Gesundheitskompetenz von Eltern anregen, partizipative Entscheidungsfindung sind Aufgaben, die früher noch nicht diesen Stellenwert hatten.
Sie haben Ihre Praxis inzwischen zu einer großen Gemeinschaftspraxis mit zwei Standorten, zwei Praxisinhabern, acht Ärzt:innen in Anstellung und 25 nichtärztlichen Mitarbeiter:innen erweitert.
Mein Partner Jan Buschmann und ich haben unsere beiden Praxen vor 15 Jahren in den großzügigen Räumlichkeiten, die mir mein Schwiegervater hinterlassen hatte, zusammengelegt. Aufgrund des unerwarteten Tods des dritten Praxisinhabers in Sinsheim einige Jahre danach haben wir dessen Sitz einschließlich des Personals, der Räumlichkeiten und der Patient:innen, die ansonsten unversorgt gewesen wären, übernommen. Wir haben nun eine Gemeinschaftspraxis mit einer Filiale.
Wie viele Weiterzubildende beschäftigen Sie?
Aktuell arbeiten in unserem Team vier Ärzt:innen in Weiterbildung. Wir sind mit der der Klinik 1 des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin an der Universität Heidelberg in einen Weiterbildungsverbund getreten und bekommen von dort jährlich eine Kollegin oder einen Kollegen vermittelt, die für ein Jahr aus der Klinikrotation beurlaubt werden und von uns einen temporären Arbeitsvertrag erhalten. In Bezug auf die Anwerbung von Mitarbeiter:innen erwies sich Weiterbildung für uns als großer Glücksfall. Wir haben kürzlich einen neuen Sozius gewonnen, der durch diese Aktivität auf uns aufmerksam geworden ist.
Wann begann Ihre Aktivität bei PädNetzS?
Nach meiner Niederlassung 2002 habe ich mich im BVKJ engagiert, wo ich zunächst als Pressesprecher des Landdesverbands tätig war. Ich wurde in der Folge zügig auf die PädNetzS eG aufmerksam. Damals stand noch der Aspekt der Einkaufsgenossenschaft im Vordergrund. Mit der PädNetz Akademie haben wir uns inzwischen zu einer Genossenschaft der Aus-, Fort- und Weiterbildung entwickelt. In Zeiten der Arzt- und MFA- Knappheit ist das Gold wert.
Was kann die Genossenschaft hier leisten?
Die PädnetzS eG kann als wirtschaftlich agierende Genossenschaft die Finanzierung elementarer Bedürfnisse der Kinder- und Jugendmedizin bedienen, wie zum Beispiel Weiterbildung im ambulanten Sektor. Weiterbildung sollte eigentlich kostenlos und vom Staat finanziert sein, aber solange sie das nicht ist, brauchen wir Mittel, um sie auf den Weg zu bringen. Wir könnten da noch vieles mehr entwickeln, Wiedereinstiegsseminare zum Beispiel. Über die Genossenschaft können wir außerdem sowohl junge Kolleg:innen auf das Weiterbildungsangebot der Akademie aufmerksam machen, als auch auch erfahrene Kolleg:innen als Referent:innen ansprechen. Das hat zu einer Bewegung im Kollegium geführt, dass Ärzt:innen sich auch als Lehrende, als Weiterbildende ihrer künftigen Nachfolger:innen sehen.
Sie sind Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg und haben dort ein besonderes Projekt für Ihre Studierenden ersonnen, das PÄPP.
Ich war 20 Jahre Lehrbeauftragter für medizinische Ethik am Heidelberger Lehrstuhl. Neben meinem Medizinstudium habe ich Philosophie studiert und in medizinischer Ethik promoviert. Wenn Studierende mit unseren jungen Patient:innen in Berührung kommen, dann steht dies fast immer im Zusammenhang mit Krankenversorgung. Der Gedanke hinter dem Pädiatrischen Patenschafts-Projekt PÄPP ist, dass die Studierenden früh Praxisnähe erfahren und die normale Entwicklung eines Kindes kennenlernen. Die Studierenden werden im ersten Studienjahr einer Patenfamilie mit einem Neugeborenen vermittelt, die sie über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren durch Haus- und Alltagsbesuche und bei Arztbesuchen begleiten. Sie lernen die Bedürfnisse eines Kindes und seiner Familie zu verstehen und richten ihren Fokus eben nicht auf Krankheiten, sondern erweitern ihn um die Bedeutung gesundheitsförderlicher und -erhaltender Lebensumstände. Durch die Vor- und Nachbereitung mit anderen Kommiliton:innen aus der PÄPP Gruppe wird die Begleitung reflektiert. Und nebenbei werden weitere Kompetenzen geschult wie die Fähigkeit, mit Eltern zu kommunizieren oder Verantwortung zu übernehmen.
Entwicklungsverzögerungen bei Kindern haben in den letzten drei Jahrzehnten zugenommen. Als Mitglied des Autorenteams IVAN (Interdisziplinäre Verbändeübergreifende Arbeitsgruppe Entwicklungsdiagnostik) waren Sie an der Erarbeitung eines Leitfadens zur Diagnose und Behandlung beteiligt.
Wir haben über einen längeren Zeitraum beobachtet, dass es einen zunehmenden Therapiebedarf für psychische und psychosomatische Erkrankungen sowie Entwicklungsverzögerungen bei Kindern gibt. Die Medikalisierung dieser Kinder ist ein Holzweg und wird oft aus subjektiv empfundener Alternativlosigkeit beschritten. Vor etwa 10 Jahren gründeten sich daher aus dem BVKJ, der Deutschen Gesellschaft für Ambulante Allgemeine Pädiatrie (DGAAP), der Bundesarbeitsgruppe Psychologen in SPZs und der DGSPJ (Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin) heraus eine Arbeitsgruppe, um ein standardisiertes Verfahren zum Zyklus aus Diagnostik, Förderung und Therapie zu entwickeln. Daraus entstand ein dreistufiges Konzept IVAN-1, das ein gestaffeltes interdisziplinäres Vorgehen vorschlägt, um Erkrankungen und Entwicklungsauffälligkeiten frühzeitig zu erkennen. Daran habe ich mitgearbeitet. Das Papier IVAN-2 beschäftigt sich mit der sozialpädiatrischen Versorgung betroffener Kinder. Es stellt sich da ja die Frage, wer bei uns in der niedergelassenen Pädiatrie behandelt werden kann und welche Voraussetzungen und Kenntnisse dafür geschaffen sein müssen. Und wer an andere pädagogische oder therapeutische Einrichtungen vermittelt werden muss. Dafür muss die Bandbreite an Möglichkeiten im Sozialraum bekannt sein.
Ihr Berufsalltag klingt nach einem dicht gefüllten Arbeitspensum. Woraus schöpfen Sie Energie?
Wenn ich nach einem Arbeitstag tatsächlich so ermüdet bin, dass ich kein Wort mehr über die Lippen bringe, meine Ohren jedoch noch weit geöffnet sind, freue ich mich, wenn meine Frau, die eine ausgezeichnete Vorleserin ist, Lust hat, uns vorzulesen. Ich mich dann einfach nur dem Zuhören widmen darf. Aber ich gewinne auch aus meiner Arbeit Energie. Die Zusammenarbeit mit den Studierenden, unserem Praxisteam und all unseren wunderbaren jungen Patient:innen macht mir Freude. Und Weiterbildung ist für mich wie die Veredelung von Praxis allein.