S.Sch: Herr Fehr, es ist noch nicht lange selbstverständlich, dass für das Fachgebiet der ambulanten Pädiatrie eine strukturierte Weiterbildung angeboten wird. Sie sind einer der Initiatoren der PädNetz Akademie. Wie kam es dazu?
F.F.: Die PädNetz Akademie ist ein Kind vieler Mütter. Eine ist die DGAAP, die die wissenschaftliche Gesellschaft der ambulanten, allgemeinen Kinder- und Jugendmedizin ist. Sie hat sich aus der DGKJ (Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin) gegründet, weil die Praxispädiater:innen über Jahrzehnte hinweg die Erfahrung gemacht hatten, dass ihre Praxisrealität in der DGKJ nicht abgebildet war. Das zeigte sich sowohl in der Vergabe relevanter Positionen, die mit Universitätspädiater:innen oder Mitarbeiter:innen von Spitzenversorgern besetzt wurden, als auch hinsichtlich von Forschungsinhalten. Versorgungsforschung, also alle Themen, die die Grundversorgung betreffen, hatte dort keinen Stellenwert. Forschung richtet sich danach, was die Industrie bezahlt und die Industrie ist an der Grundversorgung so gut wie gar nicht interessiert. Und Weiterbildung wurde und wird wahrscheinlich bis heute als eine primär klinische Aufgabe betrachtet. Bis vor etwa 10 Jahren war das auch tatsächlich so. Der Großteil der ambulant tätigen pädiatrischen Fachärzt:innen ist aus den Kliniken abgetropft, weil sie der Klinik aus unterschiedlichen Gründen überdrüssig waren.
Das heißt die Ärzt:innen kamen und kommen aus einem Arbeitskontext, mit dem sie nach ihrer Niederlassung nicht mehr viel zu tun haben.
Ein klassisches Beispiel hierfür ist die Neonatologie. Etwa 35 Prozent der Ärzt:innen, die sich aktuell niederlassen, sind Neonatolog:innen. Sie haben jahrelang besonders bedürftige Früh- und Neugeborene behandelt. Sie sind darauf trainiert, Kinder mit hochspezifischen Problemen, die ja einen sehr kleinen Anteil der Gesamtpatientenzahl darstellen, zu heilen. Und wenn sie sich dann im Anschluss niederlassen, stehen sie vor einer grundlegenden Änderung ihres Tätigkeitsfokus. In der Klinik können wir mit fantastischen Medikamenten schwerstkranke Kinder retten und machen eventuell noch die Nachsorge, aber wir haben nie mit der Grundgesamtheit zu tun.
Sie sagen, die Grundversorgung ist eine eigene Disziplin mit eigenen Fragestellungen.
Das ist sie. Denn hier sind ganz andere Kenntnisse und Kompetenzen nötig. Eine Fachärztin oder -arzt in der niedergelassenen Pädiatrie muss in der Lage sein, zu entscheiden, welche Patient:innen, die aus einem Querschnitt der Bevölkerung zu uns in die Praxis kommen, auskömmlich in der Grundversorgung behandelt werden können. Das sind etwa 80 – 90 Prozent der Kinder und Jugendlichen. Aber wer muss zügig weitergeleitet werden und wie ist diese Weiterleitung zu organisieren? Was für Vorbereitungen sind dafür nötig, welche Vernetzung ist geeignet? Das sind für Patient:innen und ihre Eltern hochelementare Fragestellungen. Oder das Entwicklungsscreening : welches Kind braucht Unterstützung, Förderung oder gar Therapie? Die Gesundheitskompetenz von Eltern anregen, partizipiale Entscheidungsfindung mit den Eltern, all das gehört zu den Kernaufgaben der niedergelassenen Kinder- und Jugendärzt:innen.
Wir haben uns innerhalb der DGAAP also Gedanken zu Lernzielen, Prozessen und geeigneten Werkzeugen gemacht. Wir erkannten, dass wir die Weiterbildung in unserem Fachgebiet mit wissenschaftlichen Methoden angehen müssen. 2014 wurde dann von Ulrich Fegeler und anderen eine DAKJ Studie zur Versorgung von Kindern und Jugendlichen bundesweit durchgeführt. In 60 repräsentativen Praxen wurden 2 Millionen Vorstellungsanlässe aufgezeichnet und ausgewertet. Dies war eine extrem folgenreiche Studie, die statistisch darstellte, dass Kinder nicht mit eindeutigen Krankheiten, sondern mit Symptomen wie Husten, Kopf- und Bauchschmerzen oder Hautausschlägen in die Praxis kommen. Daraus leiteten wir ab, dass wir die Weiterbildung symptomorientiert anlegen müssen. Zwei Grundsteine der Weiterbildung entstanden daraus: ein Nachschlagewerk für die ambulante Kinder- und Jugendmedizin, das Praxishandbuch der pädiatrischen Grundversorgung und ein Weiterbildungscurriculum für die allgemeine ambulante Pädiatrie, PaedCompenda.
PaedCompenda ist eine Art Führerschein für die
Praxistätigkeit.
PaedCompenda ist ein Instrument zum Erwerb und zum Nachweis von Kompetenzen, über die niedergelassene Kinder-und Jugendärzt:innen verfügen müssen. Es bietet hierfür ein strukturiertes Curriculum. Wir haben uns angeschaut, wie Weiterbildung international funktioniert und gesehen, der Goldstandard ist, dass ein Erfahrener im Raum die Arbeit des Unerfahrenen unmittelbar beobachtet und diesem Rückmeldung gibt, sein Wissen und Können einschätzt und wenn es soweit ist, seine Kompetenzentwicklung bestätigt, gewissermaßen wie beim Führerschein. Die Praxis ist daher der Lernort, an dem die Weiterbildungsassistent:innen schrittweise zu einer eigenverantwortlichen Patientenbetreuung befähigt werden. Es beginnt mit einer Phase des Zuschauens, gefolgt von einer Phase, in der die Weiterzubildenden bereits mit Beobachtung und Rückmeldung ihrer Weiterbildenden Patient:innen behandeln. Haben beide, Lehrende und Lernende die Anvertraubarkeit festgestellt, arbeiten die Weiterzubildenden allein, aber mit einem erfahrenen Ansprechpartner oder einer Ansprechpartnerin im Hintergrund. Das Curriculum ist in 12 Themenblöcke mit einem theoretischen und einem praktischen Anteil gegliedert. Nach und nach lernen die Weiterzubildenden alle Facetten der Grundversorgung kennen: eine Woche behandeln sie Kinder, die geimpft werden müssen, eine Woche Kinder mit Fieber usw.
Wie besteht der Zusammenhang zur Akademie?
Wir stellten fest, dass die beiden Elemente unserer Weiterbildung, das Praxishandbuch und das Weiterbildungscurriculum PaedCompenda, die beide miteinander verlinkt sind, nicht ausreichten. Uns fehlte eine dritte Ressource, die den Schlussstein in diesem Konstrukt lieferte. Bestimmte Lehrinhalte machen in der 1:1 Vermittlung wenig Sinn. Daher suchten wir nach einer Möglichkeit, um bestimmte Themen in regionalen Kleingruppen zu vermitteln. Und wir wollten ein Austauschforum für die Weiterzubildenden. So entstand der Gedanke einer Weiterbildungsakademie. PädNetzS hat das Thema Weiterbildung stets begleitet und gefördert und als die Idee der Akademie im Raum stand, beschloss PädNetzS, diese Akademie landesweit gemeinsam mit dem pädiatrischen Netz in Südbaden zu gründen, eine Akademie beider Netze.
Was bietet die Pädnetz Akademie?
Die Akademie bietet ein regelmäßig stattfindendes Mentoringseminar unter Leitung einer Sozialpädagogin an. Hier können Themen angesprochen werden wie Vereinbarkeit von Familie und Beruf, konkrete Fragen der eigenen Weiterbildung oder „Was für eine Kinder- und Jugendärzt:in will ich werden?“.
Und sie hat ein strukturiertes Seminarprogramm mit vertiefenden Kursen für Gruppen erarbeitet. Dieses ist mit dem Praxishandbuch und PaedCompenda verzahnt. So gibt es beispielsweise ein Seminar zum Versorgungsanlass “Husten”. In kleinen Gruppen wird die Spannbreite von Husten bei Kindern, vom Säuglingsalter bis zum Jugendlichen, erarbeitet einschließlich der Inhalationstechnik, Medikation, Abrechnung usw. Das gab es bislang noch nicht. Zwar werden auch von anderen Online-Seminare für Weiterzubildende angeboten, etwa von der DGKJ, aber nach meiner Erfahrung entwickeln sich diese schnell zu Spezialist:innengesprächen. Die Pädnetz Akademie hat dezidiert eine andere Didaktik im Sinn. Wir veranstalten aktivierende, motivierende Seminare, die sich am Wissensstand der Weiterzubildenden orientieren, in denen jede und jeder die Frage stellen kann, die sich in ihm bildet.
Finden die Seminare online statt oder in Präsenz?
Aufgrund der Nachfrage werden viele Seminare online angeboten, in der Regel finden sie an einem Mittwochnachmittag oder Samstagvormittag statt. Darüber hinaus gibt es vier Präsenzseminartage im Jahr, da bestimmte Lehrinhalte online keinen Sinn machen.
Woher kommen die Dozent:innen?
Die Seminarleiter:innen sind Praxispädiater:innen, die über unsere Publikationsorgane auf uns aufmerksam werden oder die wir direkt ansprechen. Die Pädnetz Akademie bietet ihnen eine Schulung und professionelle Unterstützung. Wir sagen: wir haben für euch ein Curriculum, eine Regie, eine Dramaturgie für jedes einzelne Seminar. Wir coachen und begleiten euch, wir bezahlen euch, wir haben Spaß mit euch, bitte macht mit!
Gibt es in anderen Bundesländern eine vergleichbare Weiterbildung junger Ärzt:innen?
Wir haben hier ein Alleinstellungsmerkmal. Wir bekommen jedoch inzwischen Anfragen von außerhalb, andere Bundesländer erwachen, sehen, was Ärzt:innen machen, was möglich ist. Und die Weiterzubildenden sind über Netzwerke verbunden. Im Fachgebiet Allgemeinmedizin gibt es die Kompetenzzentren WB Allgemeinmedizin, die nach § 73a SGB V mit Sozialgesetzgeld finanziert sind. Die sind aber im Wesentlichen auf die Hausärzt:innen beschränkt. Seit einem Jahr dürfen diese Angebote auch für angehende Kinder- und Jugendärzt:innen geöffnet werden, aber das wird teils sehr restriktiv interpretiert. Und wenn man da Kurse über den diabetischen Fuß für Pädiater:innen öffnet, steht das nicht im Zentrum deren Interessen. Es sind eigene Themen, die die Kinder- und Jugendmedizin bewegen. In Baden-Württemberg haben wir das Glück, sehr gut mit dem Kompetenzzentrum Weiterbildung zu kooperieren.
Im Gegensatz zur Allgemeinmedizin ist die Finanzierung der Weiterbildung bei den niedergelassenen Pädiater:innen nicht gesetzlich gesichert. Momentan wurde die Förderung, die sich aus dem Topf der Fachärzt:innen gespeist hat, sogar gestrichen. Welche Konsequenzen hat das für die Weiterbildung?
Es war ein langer Weg, bis wir die Weiterbildungsstrukturen, so, wie sie jetzt sind, aufgebaut hatten. Der Wegfall der verlässlichen Weiterbildungsförderung birgt das Risiko in sich, dass Weiterbildungsplätze nicht mehr besetzt werden. Die jungen Kolleg:innen in Weiterbildung sind natürlich keine unbeschriebenen Blätter, sie haben ein Studium hinter sich, bringen Erfahrungen, Gedanken und Ideen mit. Dennoch dauert es seine Zeit, bis sie ihr Einkommen in der Praxis selbst erwirtschaften können. Auch die Kosten für die Seminare werden gewöhnlich vom Weiterbilder übernommen, eventuell sogar als Arbeitszeit abgerechnet. Wie weit und wie lange diese in der Lage sein werden, die Kosten der Weiterbildung allein zu tragen, ist ungewiss. Seit Jahren weisen wir die Politik darauf hin, dass wir Anstrengungen unternehmen müssen, die zu befürchtende große Lücke in der ambulanten allgemeinen pädiatrischen Versorgung zu schließen und wir haben dargelegt, welche wichtige Rolle dabei die Weiterbildung spielt. Ob wir sie in der von uns geschaffenen Qualität erhalten werden können, ist nun eine Frage der politischen Unterstützung.
Das Interview führte Susanne Schöninger-Simon