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Genossenschaft der fachärztlichen Versorgung
von Kindern und Jugendlichen

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2024/01

Kommentar

Pädiatrie als praktische Ehrfurcht vor dem Leben

Albert Schweitzer zum 149. Geburtstag

Oft beginnt mein Tag mit Früherkennungsuntersuchungen U2 in der Klinik Sinsheim. Der Kraichgau ist eine fruchtbare Hügellandschaft im Nordwesten von Baden-Württemberg. Dort gibt es keine Abteilung für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, aber eine sehr aktive Geburtshilfe. Deshalb war schon mein Schwiegervater dort gerne gesehen, bei dem ich das dritte Jahr meiner Weiterbildung verbracht habe und dessen Nachfolge ich angetreten habe. Ich gehe morgens gerne in die Klinik. Die Ärzt:innen in Weiterbildung, die dort begeistert mitwirken, sagen oft, dass es eine wunderbare Art und Weise sei, den Tag zu beginnen. Das hat mich nachdenklich gemacht. Worin genau liegt der Zauber dieser Tätigkeit?

Eine Radiosendung hat mich einen Schritt weitergebracht. Sie handelt von der Ehrfurcht. Bei SWR2 kann man hören: Ehrfurcht, Demut, Staunen – Warum wir uns tief berühren lassen.

Sprecher:
Wir Deutschen haben ein Begriffsproblem. Im Englischen wird das Gefühl, um das es heute geht, mit dem Wort „awe” bezeichnet, geschrieben a-w-e. Wenn man das ausspricht, „awe”, dann steht einem der Mund offen – so wie man mit offenem Mund vor etwas steht, das einen regelrecht umwirft und tiefe Emotionen erzeugt. Der amerikanische Psychologe Dacher Keltner, der vor 20 Jahren die Forschungen zu diesem Phänomen mitbegründet hat, demonstriert das in einem Vortrag mit dem Publikum.
O-Ton Dacher Keltner: I‘m gonna count to three and give me your best awe sound! 1-2-3 …
O-Ton Publikum: Aaah …

Die deutschen Wörter Ehrfurcht, Demut und Staunen beschreiben das nur unzureichend. Ehrfurcht hat ein Kontextproblem, es hat was mit Furcht zu tun. Und in der Tat kommt das ja von diesem alten Begriff: Ich muss mich in Ehre und Furcht vor dem König oder einer anderen mächtigen Person verneigen. Und dann bin ich klein, das ist ein Machtgefälle und das gefällt natürlich nicht jedem. Insofern ist es irgendwie klar, dass wir diesen Begriff nicht mehr gerne verwenden. Der Arzt Arndt Büssing spricht lieber von „Innehalten in Staunen”.

Michelle Shiota, eine Psychologin von der amerikanischen Arizona State University, hat im Detail studiert, was bei Menschen passiert, die solche Gefühle haben – und was die Ehrfurcht von anderen Emotionen unterscheidet. In einem Experiment haben die kalifornischen Forschenden Menschen nach Fisherman’s Wharf gebracht, der malerischen, aber sehr touristischen Uferpromenade in San Francisco. Dort sollten sie ein Selbstporträt von sich zeichnen. Die Menschen zeichneten sich in der Mitte des Bildes, mitten in dem Trubel von Shops und Attraktionen. Dann bekamen Touristen im Yosemite-Nationalpark, einem Naturwunder mit spektakulären Aussichten, dieselbe Aufgabe. Diese Proband:innen zeichneten sich selbst viel kleiner und positionierten sich eher am Rand des Bildes. Die Ehrfurcht vor der Naturszenerie hatte sie offenbar bescheidener gemacht. Und diese Vorstellung vom kleineren Ich bringt Menschen offenbar auch dazu, sich gegenüber anderen sozialer zu verhalten.

SWR2 berichtet im Verlauf der Sendung von einer Befragung auf der Straße.

Frage: Haben Sie das Gefühl, dass man im Alter das Staunen verlernt und dass man als Kind mehr gestaunt hat?
Passant: Also das ist ganz bestimmt so – als Kind ist man natürlich erst mal sehr begeisterungsfähig und kann sich natürlich für alles Mögliche erst mal begeistern und staunen über Sachen, die man sich ja so als Kind nicht erklären kann. Als Erwachsener sieht man natürlich vieles viel nüchterner, und ich komme immer seltener in Momente, die einen so zum Staunen bringen. Das sehen Sie jetzt auch daran, dass ich jetzt sogar überlegen muss, wann ich zum letzten Mal gestaunt habe.

„Kinder können noch staunen” – ist das ein Klischee oder entspricht es der Wahrheit? Auch in der Ehrfurchtsforschung gibt es erstaunlich wenige Studien, an denen Kinder beteiligt waren. Eine stammt von der britischen Organisation Fam Studio, die mit Firmen zusammenarbeitet, um die Umwelterziehung von Kindern voranzubringen. Und awe, also Ehrfurcht vor der Natur, kann dabei ein wichtiges Instrument sein. In einer Ausstellung in Venedig über den Ozean, die alle Sinne der Kinder ansprach, wurde ein ähnliches Experiment gemacht wie das mit Erwachsenen, von dem wir eben gehört haben. SWR2 schließt: Es gibt noch vieles zu erforschen über das ehrfurchtsvolle Staunen. Aber offenbar haben Wissenschaftler:innen hier eine Emotion identifiziert, die in der Forschung und auch in der Therapie lange vernachlässigt wurde. Eigentlich erstaunlich, dass das erst jetzt der Fall ist.

Der Zauber der Früherkennungsuntersuchungen U2 hat möglicherweise etwas mit dem Staunen zu tun. Staunen darüber, dass ein kleiner Mensch vollkommen erscheint: So klein, so hilflos und doch so mächtig. Neugeborene zeigen ihren Eltern das ganze Spektrum der Emotionen. Eltern können sehr glücklich sein, wenn das Neugeborene zufrieden ist und sehr verzweifelt, wenn es dem Neugeborenen nicht gut geht. Ein neugeborenes Kind ändert das Leben seiner Eltern so stark, wie kaum ein anderes Lebensereignis. Es zeigt uns unsere Grenzen auf.

Das führt mich direkt zu Albert Schweitzer. Am 14. Januar 2024 konnten wir seinen 149. Geburtstag feiern. Sein philosophisches Hauptwerk: Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben. Schweitzer geht 1962 in der Quintessenz seines philosophischen Denkens davon aus, dass sich Menschen beim Nachdenken über sich selbst und ihre Grenzen wechselseitig als Geschwister erkennen, die über sich selbst und ihre Grenzen nachdenken.

Im Zuge des Zivilisationsprozesses wird die Solidarität, die ursprünglich nur auf den eigenen Stamm bezogen war, nach und nach auf alle, auch unbekannte Menschen übertragen. In den Weltreligionen und Philosophien sind diese Stadien der Kulturentwicklung konserviert.

Wikipedia fasst zusammen: Seit der Renaissance verwachsen die außengeleitete Tugend aller Tugenden und das innengeleitete Gebot aller Gebote zu einem weltlichen Recht (Erasmus von Rotterdam), Grundlage für den Utilitarismus von Jeremy Bentham, während David Hume eine natürliche Empathie als Ursache annimmt. Immanuel Kant verbindet diese mit dem Dualismus und verlegt die Moral in der Form des Kategorischen Imperativs in die Natur des Menschen, der in der geistigen Welt als Subjekt lebt und in der gegenständlichen nur Objekt ist. Das häufige Scheitern am moralischen Anspruch macht aus dem guten Gewissen einen Mythos, während die Zivilisation das Vertrauen und den Sinn mit der Folge von Resignation und reaktiver Sentimentalität untergräbt. Damit dieser Druck dazu führt, dass das Subjekt sein Sein als „Wille zum Leben inmitten vom Willen zum Leben“ anderer begreift und diese Erfahrung mit dem Liebesgebot Jesu unterfüttert, braucht es Anleitung. Dann verbindet es die Gebote des Gewissens in der Form des Kategorischen Imperativs in der geistigen Welt mit den Tugenden in der gegenständlichen Welt und erkennt den Unterschied zwischen böse und gut als Ausdruck lebensschädigender und lebensfördernder Wirkungen und findet darin den höchsten sittlichen Wert.

Mir gefällt daran besonders eine Lebensanschauung, in der Lebensbejahung keine Erkenntnis-, sondern eine Willenskategorie ist. Wer sich berühren lassen will vom neugeborenen Leben, wer darüber ins Staunen gerät, für den hält es seinen unverwechselbaren Zauber bereit. Damit geht der weitere Tag nicht mühelos, aber bezaubert von der Hand.

Folkert Fehr

Albert Schweitzer
geboren: 14. Januar 1875
Kaysersberg (Elsass),
gestorben: 4. September 1965
Lambaréné (Gabun, Westafrika)

Albert Schweizer