Genossenschaft der fachärztlichen Versorgung
von Kindern und Jugendlichen

2025/2

Interviewserie

Joachim Suder: Frühe Hilfen – das Projekt und seine Entstehung

In loser Folge stellen wir die aktiven Mitglieder des Vorstands und Aufsichtsrats von PädNetzS vor. Das Interview führte Susanne Schöninger-Simon.

Joachim Suder
war niedergelassener Kinder- und Jugendarzt in einer 
Gemeinschaftspraxis in Tübingen, führte von 1991–2020 eine Praxis für Pädiatrie und Naturheilverfahren und war viele Jahre Mitglied des Aufsichtsrats und Vorstands der PädNetzS Genossenschaft.

 

S.Sch.: Herr Suder, seit wann sind Sie Genossenschaftsmitglied bei PädNetzS eG?

J.S.: Ich bin zwar kein Gründungsmitglied, gehöre aber sicher zu den ersten hundert Mitgliedern. Ich besuchte mit meinem damaligen Praxispartner in Tübingen die erste Jahresversammlung und wir ließen uns im Anschluss beide als Mitglied eintragen. Über mehrere Wahlperioden war ich im Vorstand und Aufsichtsrat aktiv und bis 2022 Finanzvorstand.

Sie waren an der Entwicklung des Projekts „Interprofessionelle Qualitätszirkel Frühe Hilfen“ in Baden-Württemberg beteiligt, das 2010 als Modellprojekt gestartet ist.

Als Reaktion auf Fälle von Misshandlungen und Kindstötungen in Deutschland hat das Bundesfamilienministerium 2007 das Aktionsprojekt „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ als Bundesprogramm initiiert. Um dieses Projekt auch in Baden-Württemberg voranzubringen, engagierten sich der damalige Abteilungsleiter der Qualitätssicherung der KV sowie Professor Marcus Siebolds von der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln sehr. Ich war an der Konzeption beteiligt. Gemeinsam haben wir das Modellprojekt erarbeitet und konnten es mit Unterstützung des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH), das die Modellphase finanziert hat, umsetzen. Das Modellprojekt wurde dann nach sechs Jahren verstetigt und wird seitdem vom Bundesministerium für Familie als überörtliche Maßnahme gefördert.

Welche Idee steckt hinter dem Projekt?

Unser primäres Projektziel war, die Zusammenarbeit von Vertragsärzt:innen und Mitarbeiter:innen der Jugendhilfe sowie anderen Unterstützungsanbietern zu verbessern. Dafür wollten wir nach einem wissenschaftlich eruierten Konzept eine Dramaturgie erarbeiten. Vergleichbar mit der Arbeitsweise in den ärztlichen Qualitätszirkeln, deren Struktur wir auch übernommen haben, haben wir dann Module für die Fallfindung und Fallabarbeitung entwickelt.

Die Frühen Hilfen verstehen sich als ein präventives Konzept.

Im Prinzip ist das Modell so angelegt, dass Ärzt:innen und Jugendhilfe ein Empowerment starten, um Eltern zu stärken, im Idealfall schon vor der Geburt ihres Kindes. Das Konzept der Frühen Hilfen sieht vor, im Gesundheitswesen im Vorfeld bereits zu eruieren, ob es in einer Familie Hinweise auf eine schwierige Situation gibt oder auf belastende Lebensumstände der Eltern, weil ein Elternteil vielleicht alleinerziehend ist, eine psychische oder chronische Erkrankung vorliegt, eine Suchterkrankung oder anderes. Hausärzt:innen, Psychotherapeut:innen sowie Gynäkolog:innen, Hebammen und natürlich die Pädiater:innen sollen dahingehend sensibilisiert werden. Damit betroffene Familien möglichst früh an die Jugendhilfe weitergeleitet werden, wo diese Beratung und Unterstützung, aber auch entlastende Angebote erhalten, beispielsweise durch eine Familienkrankenschwester oder Hebamme, die in die Familie geht.

Vor diesem Programm kannten wir nur die „späte Hilfe“. Wir erleben in der Praxis immer wieder Situationen, in denen Kinder wegen bestimmten Vorstellungsanlässen kommen und etwas auffällig erscheint, das mit diesen nichts zu tun hat oder in denen zum Beispiel Verletzungen nicht mit der genannten Ursache zusammenpassen. Im Notfall kann ich als Arzt die stationäre Einweisung eines Kindes veranlassen, um es zu schützen. Im Krankenhaus sind dann die Sozialarbeiter der Klinik involviert. Ansonsten darf ich im Bereich des Gesundheitswesens eine Überweisung an die Logopädie, Ergotherapie usw., ausstellen, nicht jedoch an die Jugendhilfe. Auch deshalb ist es wichtig, dass wir uns in den Qualitätszirkeln kennenlernen und die Menschen darauf hinweisen können, wo sie Hilfe erhalten können. Doch, da bereits etwas vorgefallen ist, ist diese Maßnahme wie gesagt, eine „späte“ Hilfe. Die Frühen Hilfen setzen hingegen an, bevor etwas passiert.

Wie bekannt ist das Projekt unter Ihren Kolleg:innen?

Ich denke, das Projekt ist bekannt. Die KV bewirbt es und es sind verschiedene Artikel im Deutschen und Baden-Württembergischen Ärzteblatt erschienen, die ich mitverfasst habe. Auch auf pädiatrischen Kongressen haben wir das Programm mehrfach vorgestellt.

Wie erfahren Eltern von dieser Möglichkeit?

Wir informieren darüber in Flyern, die in den Praxen ausliegen. Auch das Gelbe Heft enthält einen Hinweis. Jede Ärztin und jeder Arzt sollte bei der Erstuntersuchung eines Kindes auf die Frühen Hilfen hinweisen, ebenso Gynäkolog:innen und Hebammen.

Warum beschränkt sich das Programm auf die ersten drei Lebensjahre eines Kindes?

Die meisten Kinder, die durch elterliche Gewalt zu Tode kommen, haben das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet. Die Ursachen sind Schütteltraumata, körperliche Übergriffe, sexueller Missbrauch, Vernachlässigung. Als wir das Projekt gestartet haben, lag das Kindergarteneintrittsalter noch bei drei Jahren. Bis ein Kind drei war, war es ausschließlich in der Obhut der Familie und wurde darüber hinaus nur innerhalb des medizinischen Systems regelmäßig gesehen, d.h. bei Krankheit, zur Vorsorge oder Impfung. Heute hat sich dieser Aspekt etwas verändert, da Kinder meist früher in Betreuungseinrichtungen kommen und bei Auffälligkeiten auch Erzieher:innen das Jugendamt einschalten können. Es ist außerdem nicht so, dass das Empowerment mit Beginn des vierten Lebensjahrs endet, nur die Intensität der Eruierung. Ein Folgeprogramm ist zum Beispiel das Landesprojekt STÄRKE.

Wie ist die Resonanz seitens der Ärzteschaft?

Das Projekt wird gut angenommen. Die Teilnahme ist freiwillig, um die Leistung jedoch abrechnen zu können, muss eine achtstündige Schulung absolviert werden, die wir über die KV anbieten. Dort bekommen Kolleg:innen eine Fallfindung nahegelegt: Welche Risikofaktoren gibt es? Worauf muss man achten? Auch eine Gesprächsführung für die doch häufig sehr schwierigen Situationen üben wir mit den Teilnehmer:innen. Anfangs haben wir 20-40 Leute in einem Kurs geschult. Inzwischen liegt die Gruppengröße bei 10-15 Personen, auch da inzwischen viele Kolleg:innen bereits am Kurs teilgenommen haben. Wir bieten die Schulung zweimal im Jahr an.

Beteiligen sich alle Krankenkassen?

Leider beteiligen sich nur einige Krankenkassen. Die AOK als größte Kasse findet das Projekt toll, konnte sich jedoch noch nicht durchringen, die Kosten für ihre Patient:innen zu übernehmen. Obwohl die meisten Patient:innen, die zur Risikogruppe gehören, Versicherte der AOK sind. Ein großer Risikofaktor ist Armut. Viele wollen das nicht wahrhaben, aber Kinderarmut ist ein häufiges Phänomen in unserem Land und keine Regierung hat daran bisher etwas geändert. Es würde dem Projekt sicher einen neuen Schub geben, wenn die AOK bereit wäre, das gering dotierte Honorar zu bezahlen. Ansonsten bleibt es weiterhin ehrenamtlich, was die Kolleg:innen da an Einsatz bringen.