Kindesmissbrauch hat Folgen, die weit über die Kindheit hinausreichen. In diesem Interview mit zwei Menschen, die heute beide etwa 60 Jahre alt sind, soll dies beispielhaft verdeutlicht werden. Die Missbrauchserfahrungen und die Umgebung, in der dies geschah, sind vollkommen unterschiedlich.
Im Interview beschreiben Elfie und Karl ihre Erfahrungen. Dabei wird auch betrachtet, welche Möglichkeiten es gegeben hätte, von außen einzugreifen.
Elfie, was haben Sie als Kind erlebt?
Elfie: Bereits im vor- und frühsprachlichen Alter wurde ich sexuell benutzt und missbraucht. Eines der harmloseren Beispiele ist, dass es in meiner Kindheit und Jugend durchweg sexuell übergriffige Situationen mit meinem Vater gab, häufig direkt vor den Augen meiner Mutter. Etwa Berührungen an der Brust, als ich in die Pubertät kam. Es wurde so getan, als handle es sich nur um eine Albernheit. Meine Mutter reagierte meist mit überdrehtem Kichern. Ich empfand das als eklig und wollte es nicht.
Haben Sie sich dagegen gewehrt?
Elfie: Nein, mich zur Wehr zu setzen oder es auch nur anzusprechen, war unmöglich. Mir wurde von beiden Elternteilen suggeriert, dass diese Übergriffe harmlos waren. Ich war verunsichert, traute meinen Empfindungen nicht. Paradoxerweise war da gleichzeitig ein Gefühl von Schuld, dass ich meinen Vater, allein durch mein Vorhandensein, zu solchen Handlungen trieb. Von meiner Mutter kamen häufig Bemerkungen, dass man mit Töchtern „die Konkurrenz im Haus“ habe.
Ich bin in einem Elternhaus aufgewachsen, in dem wir Kinder kein Anrecht auf eigene Wünsche hatten, Kinder mussten sich unterordnen. Herabwürdigungen, beleidigende Äußerungen, Liebesentzug als Strafe gehörten zur Tagesordnung. Hinzu kommt, dass ich aufgrund eines Impfschadens in der frühen Kindheit eine starke Sehbehinderung und Rheuma habe. Meine Mutter hatte große Probleme damit, ein behindertes Kind zu haben, häufig fielen Sätze wie „Wofür hat mich Gott bestraft?“. Angst, Schuldgefühle und Selbstzweifel waren die Grundlage dafür, dass ich glaubte, kein Recht zu haben meinen Vater abzuwehren.
Gab es weitere Personen in Ihrem Umfeld, die etwas mitbekamen?
Elfie: Meine Großmutter, von der ich mich akzeptiert und geliebt fühlte, kam regelmäßig zu uns. Sie müsste eigentlich etwas realisiert haben. Ich erinnere mich jedoch nicht daran, dass sie gegen meine Eltern interveniert hätte.
Warum, glauben Sie, hat sich Ihre Großmutter nicht für Sie eingesetzt?
Elfie: Meine Großmutter hatte ebenfalls eine schwierige Biografie und war dazu in einem Frauenbild gefangen, in dem Männer den Ton angeben. Innerhalb der Familie war mein Vater ein dominanter Mensch mit hohem Aggressionspotenzial. Meine Großmutter wurde von ihm wegen ihres weichen mitfühlenden Herzens häufig vorgeführt. Sie hatte vermutlich nicht die Kraft, sich ihm entgegenzustellen.
Was passierte dann?
Elfie: Mit zwanzig, als ich eine Liebesbeziehung mit meinem jetzigen Mann begann, tauchten plötzlich Bilder und Töne in mir auf, die mit sexueller Gewalt zu tun hatten und mit meinem Vater zusammenhingen. Das warf mich völlig aus der Bahn, ich ertrug keine Berührungen mehr.
Wie gingen Sie damit um?
Elfie: Zuerst gelang es mir, diese Erinnerungen wieder wegzuschieben, abzuspalten, doch dann kamen sie wie eine Welle erneut über mich. In unserem Freundeskreis gab es jemanden mit Therapieerfahrung, er war die erste Person neben meinem Mann, dem ich vom Missbrauch durch meinen Vater erzählte. Mit seiner Unterstützung gelang es mir mit Mitte dreißig dann auch, meinen Vater mit seinen Taten zu konfrontieren. Inzwischen hatte ich erfahren, dass meine jüngere Schwester und meine Cousine von meinem Vater ebenfalls missbraucht worden waren.
Wie hat Ihr Vater auf die Konfrontation reagiert?
Elfie: Überraschenderweise hat er im ersten Moment den sexuellen Missbrauch zugegeben. Allerdings mit charakteristischen Tätersprüchen, die ihm die Verantwortung für das Geschehene abnahmen und mir eine freiwillige Beteiligung und Spaß daran unterstellten. Am Tag danach rief er mich an, hielt mir vor, unverschämt gewesen zu sein und teilte mir mit, mich nicht mehr als seine Tochter zu betrachten.
Wie hat sich Ihr Heilungsweg entwickelt?
Ich begann eine Ausbildung zur Tanz- und Ausdruckstherapeutin. In den ersten Jahren wurden so viele Erinnerungen getriggert, dass ich die Ausbildung abbrechen musste. Ein dreimonatiger Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik wurde notwendig. Es folgten viele Jahre mit Selbsthilfegruppe und verschiedenen Therapien, die ich oftmals selbst bezahlen musste. Bis heute erlebe ich Einschränkungen und Belastungen in meinem Leben. Ich bin heute über 60 Jahre alt.
Karl, welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Karl: Eine erste Ahnung, dass mir als Kind sexueller Missbrauch widerfahren ist, hatte ich, als ich bereits fünfzig Jahre alt war. Der Auslöser war eine Körperübung auf einem Selbsterfahrungsseminar, die ich völlig unerwartet als extrem schrecklich erlebt habe. Ich konnte überhaupt nicht einordnen, was da mit mir geschah. Das warf die Frage auf: Was ist hier in mir gespeichert?
Ich habe mich dann auf den Weg gemacht, das herauszufinden. In Therapien und unterschiedlichen Settings sind Erinnerungen und
Details aufgetaucht. Ich hatte plötzlich ein Gefühl für das, was passiert ist und für den Täter. Das ist die Erinnerungsebene, die ich heute habe: das, was in Form von Flash Backs zu mir kam, ist das, was ich „weiß“. Seitdem beschäftigt mich dieses Thema.
Eine wichtige Erkenntnis aus meiner therapeutischen Arbeit ist, dass meine Kindheit von großem emotionalem Mangel geprägt war: Eltern die völlig überfordert waren, die aus ihren Möglichkeiten heraus handelten, aber meinen Bedürfnissen als Kind nicht gerecht wurden. Das hat sich bestätigt, als ich als Erwachsener anfing, mich zu erinnern und meine Mutter fragte, ohne etwas Konkretes zu behaupten, ob sie etwas wisse. Sie reagierte auf eine Weise, die eine Fortsetzung dessen war, wie sie mich als Kind behandelt hat: völlig unangemessen und abwertend. Ob ich sie bereits als Kind angesprochen habe, weiß ich nicht mehr. Falls ich es tat, ist klar, dass sie die Frage abwehrte, indem sie mich abwertete, aus Angst ins Gerede zu kommen, den Ruf der befreundeten und ihrer eigenen Familie zu gefährden. Die sexuelle Gewalt passierte also in einem Umfeld, das sowieso schon total vergiftet war. Defizitär und von emotionalem Mangel geprägt.
Karl, wollen Sie kurz schildern was Ihnen geschehen ist?
Meine Eltern waren nach einem Unfall beide gleichzeitig im Krankenhaus. In dieser Zeit waren wir Geschwister bei unterschiedlichen Bekannten untergebracht. In diesen Tagen muss mir der Missbrauch zugefügt worden sein.
Ich glaube, dass ein Kind aus einem defizitären Umfeld ganz besonders vulnerabel in solchen Notsituationen ist, weil es hofft, dass es statt Gewalt Zuwendung und Liebe erfährt.
Hätten Sie damals Ihren Vater oder ein anderes Familienmitglied ins Vertrauen ziehen können?
Karl: Dadurch dass wir während meiner Grundschulzeit ständig umgezogen sind, gab es keine längeren Freundschaften und keine Verwandten in der Nähe.
Mein Vater war emotional nicht zu erreichen. Er lebte mit uns, war derjenige, der den Familienunterhalt verdiente. Zugleich fühlte es sich für mich so an, als sei er nicht anwesend, weder als Partner für meine Mutter, noch als Bezugsperson für uns Kinder. Es bestand kein Verhältnis zwischen uns, das mir Sicherheit und Vertrauen gegeben hätte, etwas Heikles zu erzählen. Es gab einfach niemanden, dem ich mich hätte anvertrauen können.
Würden Sie rückblickend sagen, dass jemand außerhalb der Familie etwas hätte bemerken können? Hätte Sie jemand unterstützen können?
Karl: Ich war ein schüchternes, introvertiertes Kind. Es hat niemand hingesehen, ob es dafür eine Ursache gab. Durch die Umzüge hatten wir auch keine uns regelmäßig betreuende Ärzt*innen oder enge Bindungen zu anderen Personen. Ich vermute, ein zurückhaltendes, stilles Kind war für alle praktisch. Wir waren mehrere Geschwister zuhause, meine Mutter vermutlich zeitweise überlastet. Unsere Schulklassen bestanden aus 30 Schüler*innen oder mehr.
Elfie: Mit zehn Jahren kam ich in eine Ganztagesschule für sehbehinderte Kinder. Es war das erste Mal, dass ich mich einer Gruppe zugehörig fühlte und nicht unter großem Druck stand. Ich hatte das erste Mal eine beste Freundin. Bereits in diesem Alter beneidete ich die Internatskinder, die nicht nach Hause gehen mussten. Als mich einmal ein Schulfreund zuhause besuchte, sagte er zu mir: „Du zu Hause und du in der Schule, ihr seid wie zwei verschiedene Menschen.“ Zu Hause war ich ängstlich, verdruckst, ganz darauf bedacht, keine Angriffsfläche zu bieten, das war meinem Schulfreund aufgefallen. Ob es auch andere bemerkten, ist schwer zu beurteilen. Nach außen hin wurde von meinen Eltern ja auf ‚Heile Welt‘ gemacht, sie galten als ein attraktives Paar mit zwei netten Mädchen. Vielleicht hat jemand etwas registriert, reagiert hat niemand. Weder meine Ärztin, der ich regelmäßig vorgestellt wurde, noch Lehrer*innen, noch sonst jemand. Ich erinnere mich, dass man mich lange Zeit als ein introvertiertes, sich defensiv verhaltendes Kind betrachtete. Dass ich bedrückt wirkte, wurde immer auf meine Behinderung geschoben.
Doch selbst wenn jemand nachgefragt hätte, wäre es mir unmöglich gewesen, etwas zu erzählen. Ich hätte behauptet, es sei alles in Ordnung. Selbst meine beste Freundin durfte das nicht wissen.
Weshalb?
Elfie: Wir wurden darauf getrimmt stillzuhalten, die bürgerliche Fassade zu wahren. Es gab Schweigegebote, Drohungen, die Suggestion, dass meiner Oma oder meiner Schwester etwas passieren könnte. Ich hätte mich außerdem wie eine Nestbeschmutzerin gefühlt, hätte ich jemandem etwas erzählt. Kinder verhalten sich oft erschreckend solidarisch zu ihren Eltern – je schlimmer diese sind, umso stärker.
Karl: Ich würde es gerne zuspitzen. Kinder können bis zur Pubertät ohne den Schutz der Eltern nicht überleben, d.h. schon aus elementarem Überlebensinteresse muss sich ein Kind solidarisch und verbunden mit den Eltern zeigen, aus seiner Sicht hat es keinen Spielraum, sich gegen diese zu stellen.
Elfie: Es entsteht eine Art Stockholmsyndrom, das geht so weit, dass man sich mit diesen Eltern und deren Bedürftigkeit vollkommen identifiziert. Das Kind fühlt sich verantwortlich, dass es den Eltern gut geht. Das wurde von meinem Vater gegenüber mir auch offen kommuniziert: du musst schauen, dass es der Mama gut geht, wenn nicht, hast du Schuld. Und Kinder möchten geliebt werden, ich dachte, wenn ich mich genug anstrenge, werde ich vielleicht doch noch geliebt. Diese Art Eltern entlassen einen nicht aus diesem Kreislauf. Ohne Hilfe kommt man da nicht raus.
Keinem mitteilen zu können, was passiert ist, was hat das mit Ihnen als Kind gemacht?
Karl: Weil es so massiv war, habe ich es verdrängt. Das gehörte nicht zu mir, nicht zu meinem Leben. Das bedeutete im Umkehrschluss, dass ich zu niemandem mehr gehörte. Ich durfte mich nicht zeigen, denn da gab es ein Geheimnis, über das ich nicht sprechen durfte und dass ich selbst dann nicht einmal mehr wusste.
Nach innen Abspaltung, das bedeutete nach außen auch Isolation.
Es klingt vielleicht merkwürdig, aber es war eine Erleichterung in die Erinnerung gehen zu dürfen und eine Erklärung zu erhalten: „Daher war alles so seltsam. Deshalb hast du dich immer so aussätzig gefühlt. Das war das schmutzige Geheimnis, dass du nicht erinnern durftest.“ Das war schmerzlich und zutiefst beunruhigend, aber gleichzeitig eine große Erleichterung.
Elfie: Dieses Gefühl des Nicht-Dazugehörens kann ich bestätigen. Ich hatte immer die Emotion: ich passe nicht dazu, ich gehöre nicht dazu, an mir ist irgendetwas falsch. Irgendetwas an mir ist schmutzig. Wenn die anderen wüssten, wie ich wirklich bin, wollte niemand etwas mit mir zu tun haben. Bis heute muss ich immer wieder von neuem lernen, dass ich so wie ich bin, richtig und liebenswert bin.
Gibt es eine Botschaft, die Sie gerne weitergeben würden?
Karl: Hinzufühlen, wenn Kinder stark gehemmt, verdruckst oder auch bedrückt wirken. Auch auf leichte Verletzungen zu achten, auch in den Körperöffnungen. Bei körperlichen Untersuchungen sensibel wahrzunehmen, wie ein Kind auf Berührungen reagiert: Ist es verängstigt oder zuckt vielleicht zusammen? Verstummt es, ist angespannt oder erstarrt? Auch wenn Kinder auffällig aggressiv sind und leicht ‚ausrasten‘, kann das ein Indikator für erlebte Misshandlung sein.
Elfie: Mir hat einmal ein Psychologe gesagt, dass starkes Rheuma in bereits jungen Jahren könne davon herrühren, dass die psychische Last zu groß war. Ich leide außerdem an Fibromyalgie. Man weiß, dass diese Erkrankung mit traumatischen Erlebnissen in der Kindheit zu tun haben kann. Manchmal denke ich, der Körper hat sich unberührbar gemacht. Deshalb ist es wichtig, dass bei solchen Krankheiten die Gesamtverfassung eines Kindes näher betrachtet wird. Wie geht es ihm seelisch? Dass man sich hier nicht mit vorschnellen Antworten zufrieden gibt, sondern tiefer gräbt. Die körperlichen Symptome können ein Hinweis sein.
Das Interview führte Susanne Schöninger-Simon
Die Namen unserer beiden Interviewpartner*innen sind
Pseudonyme. Die richtigen Namen sind der Redaktion bekannt.