Eher am Rande einer Diskussion während des Think Tanks tauchte der Begriff „Kindeswohlgefährdung“ auf, doch nachdem das Thema einmal im Raum stand, zeigte sich bei allen Anwesenden ein großes Bedürfnis, von ihren Erfahrungen aus dem Praxisalltag zu berichten.
Die Betroffenheit ist nicht verwunderlich. Das BKA veröffentlichte für das Jahr 2024, 16.354 registrierte Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern unter 14 Jahren [1]. Stellt man diese Zahl der Anzahl der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Kinderärzt:innen [2] gegenüber, könnten theoretisch bei jeder ambulant tätigen Pädiaterin und jedem Pädiater in Deutschland zwei Kinder pro Jahr vorstellig werden, die sexuellen Missbrauch erfahren. Die WHO vermutet eine weit höhere Dunkelziffer. Experten gehen davon aus, dass etwa 10 % der Kinder und Jugendlichen einer Form der Kindeswohlgefährdung ausgesetzt sind. Das würde bedeuten, dass ein Praxisteam mehrmals die Woche ein Kind zu sehen bekäme, das Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Misshandlung erleidet. Wird diese Gewalterfahrung immer erkannt?
„Kinderschutz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die uns alle angeht und die eine Kultur des Hinschauens und Handelns bedarf“, steht auf der Seite des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Integration von Baden-Württemberg. Kürzlich machte mich ein Kinder- und Jugendarzt darauf aufmerksam, dass es seitens der Ärztekammer oder der KV keine Initiative zum Kinderschutz gibt. Wie ist es dann um die Kultur des Hinschauens und Handelns in unseren Kinder- und Jugendarztpraxen bestellt? Bislang hängt es von den jeweiligen Ärzt:innen ab, welche Relevanz sie ihren Beobachtungen beimessen und wie die daraus abgeleiteten Maßnahmen aussehen. Jede Pädiaterin und jeder Pädiater wird hier nach bestem Wissen und Gewissen handeln und dennoch kann die Bewertung des Beobachteten beeinflussenden Faktoren ausgesetzt sein.
So entstand aus dem Think Tank heraus die Idee, in einer neuen Beitragsreihe der PädNetzS Info das Thema „Kinderschutz und Praxis“ aufzugreifen und diesen Faktoren nachzugehen. Mit dem Ziel, die eigene Sensiblität zu erhöhen und auch an Kolleginnen und Kollegen zu appellieren: Verfolgen wir eine Kultur des Hinschauens und Handelns, denn Kinderschutz beginnt auch im Praxisalltag.
Susanne Schöninger-Simon
Quellen:
[1] BKA: Bundeslagebild, Sexualdelikte zum Nachteil von Kindern und
Jugendlichen, S. 5 ff
[2] https://www.kbv.de/documents/infothek/zahlen-und-fakten/Bundesarztregister/2024-12-31-BAR-Statistik.pdf