Die Frage nach Unterstützungsmöglichkeiten für Familien stellt sich hin und wieder im Praxisalltag, denn Sie als niedergelassene Pädiater:innen begleiten Familien meist über einen langen Zeitraum und erhalten dadurch Einblick in deren oft schwierigen Alltag. Auch bei den Früherkennungsuntersuchungen wird abgeklärt, ob es eine Notwendigkeit für unterstützende Maßnahmen aufgrund von Belastungsfaktoren in einer Familie gibt. Und häufig nehmen Eltern Sie in Ihrer Funktion als Kinder- und Jugendärzt:innen als Vertrauensperson wahr, von denen sie sich Informationen für ihren Unterstützungsbedarf erhoffen.
Dieser Bedarf kann vielfältig sein. Er kann sich auf die Pflege kranker Kinder beziehen, auf familiäre Konflikte oder eine Überforderung der Eltern in ihrer Elternrolle. Daher haben wir in der PädNetzS Info das Thema Unterstützung für Familien mit unterschiedlichen Beiträgen aufgegriffen.
Im Themenschwerpunkt der Herbstausgabe 2024 haben wir
bereits drei Organisationen Raum gegeben, sich vorzustellen.
Ihr Angebot umfasst Intensivpflege oder Beratungsleistung, die Betroffene durch die inzwischen große Bandbreite an Hilfsangeboten führt (PädNetzS Info 24/4):
Arche Intensivkinder GmbH
Die außerklinische Intensivpflegeeinrichtung bietet die Anschlussversorgung komplex erkrankter Kinder an einen Klinikaufenthalt an.
Landesstelle Baden-Württemberg am Hospiz Stuttgart – Wegbegleiter für Familien mit einem schwer kranken Kind
berät Familien mit einem schwer kranken oder schwerst behinderten Kind, aber auch Fachkräfte. Betroffenen Familien wird in diesem Angebot mit Hilfe persönlicher Ansprechpartner:innen geholfen, möglichst zeitnah ein aus der Vielzahl der Angebote für ihre konkrete Situation passendes Unterstützungs- und Entlastungsangebot zu finden.
EUTB (Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung)
ist eine unabhängige Beratungseinrichtung für Menschen, die von einer Behinderung betroffen oder bedroht sind sowie für deren Angehörige. Ihr Ziel ist die Stärkung der Selbstbestimmung der betroffenen Personengruppe. Das Beratungsangebot ist kostenfrei und darauf ausgerichtet, gemeinsam mit den Betroffenen und entsprechend ihres individuellen Bedarfs nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Es umfasst alle Bereiche, die für ein selbstbestimmtes Leben wichtig sind, Themen wie Inklusion in der Schule oder am Arbeitsplatz, Unterstützung bei Weiterbildungen, selbständigem Wohnen sowie bei Antragstellungen.
Als Gast unserer Interviewserie hat Joachim Suder in der letzten PädNetzS Info über die Entstehung der Frühen Hilfen berichtet. Herr Suder war maßgeblich am Aufbau des Projekts in Baden-Württemberg beteiligt (PädNetzS Info 2025/2).
Frühe Hilfen
sind ein präventives Unterstützungskonzept für Eltern, um Misshandlungen und Vernachlässigung von Kindern bereits im frühen Kindesalter vorzubeugen. Akteure des Gesundheitswesens und der Jugendhilfe arbeiten dafür zusammen. Für Vertragsärzt:innen ist die Diagnose und Gesprächsführung als Leistung abrechenbar.
In dieser Ausgabe lesen Sie über den Familienrat.
Er ist ein Verfahren zur Konflikt-und Problemlösung, das für Familien von verschiedenen Jugendämtern in Baden-Württemberg angeboten wird.
Beispiel aus der Praxis:
Susan / 10 Jahre alt
lebt nach der Trennung der Eltern mit zwei kleineren Geschwistern bei der Mutter.
Sorge: Die Mutter ist überfordert, Susan viel sich selbst überlassen, sie geht nicht regelmäßig zur Schule, treibt sich bis spät auf der Straße herum – das ist gefährlich.
Frage: Wie kann es für Susan besser weitergehen?
Ergebnis: Neun Familienmitglieder und Freund:innen haben einen Plan erarbeitet, der die Mutter entlastet und Susan einen Rhythmus im Alltag bieten soll.
Beispiel aus der Praxis:
Ben / 1,5 Jahre
ist in Bereitschaftspflege untergebracht.
Ressourcen: Die Familie engagiert sich für Ben, er ist munter und gut entwickelt.
Sorge: Die Sucht der Mutter und ihr
Verschwinden. Wer kümmert sich um Ben?
Frage: Wie soll die Zukunft aussehen und wie und wo kann Ben gut aufwachsen?
Mindestanforderung des Jugendamts: Zuverlässige längerfristige Betreuung, die von Pflegekinderdienst überprüft wird
Ergebnis: Ein Rat mit Ben, Vater, Mutter und zehn Freund:innen und Verwandten. Die Familie hat drei Optionen entwickelt: Ben lebt nach einem Vater-Kind-Training beim Vater, Opa oder in einer Pflegefamilie. Im Vater-Kind-Training haben erst der Vater und dann der Opa erkannt, dass es für sie nicht umsetzbar ist. Sie haben sich daher für Bens Unterbringung in einer Pflegefamilie entschieden. Die Kooperation zwischen den Familien läuft nachhaltig gut – es gibt regelmäßigen Kontakt zur Familie.
Familienrat als Zukunftsrat
Tamara, 17 Jahre
fällt es sehr schwer, Regeln einzuhalten. Sie lebt nach dem Rauswurf aus der Wohngruppe bei ihrer großen Schwester, ihre Mutter kann sie nicht aufnehmen. Es gibt die Sorge, dass Tamara abrutscht und wohnsitzlos wird.
Ressourcen: Tamara ist interessiert, gut in der Schule und freundlich im Umgang. Sie hat einen stabilen Freundeskreis und ist ehrgeizig.
Fragestellung: Wie kann es für Tamara besser weitergehen? Wo wird sie leben, wer unterstützt sie?
Mindestanforderung des Jugendamts zum Schutz: Keine
Ergebnis: Acht Jugendliche, Freund:innen und Geschwister von Tamara, haben einen Plan erarbeitet, der den Umzug in eine eigene Wohnung, den Abschluss der Ausbildung und eine Struktur in Tamaras Alltag beinhaltet. Die Jugendlichen haben Tamara im Anschluss unterstützt, den Plan umzusetzen, indem sie z. B. miteinander gelernt und sich morgens gegenseitig geweckt haben. Sie waren stolz darauf, ihre Beschlüsse konsequent realisiert zu haben. Die Umsetzung war nachhaltig.
Familienrat
Ein Weg, um in Gemeinschaft Lösungen zu finden und das Netzwerk einer Familie zu vergrößern
Jede Familie kann in eine problematische Lebenssituation geraten, die sie aus eigener Kraft nicht bewältigen kann. Die schwere Erkrankung eines Elternteils, anhaltende Konflikte innerhalb der Kernfamilie, belastende Schulprobleme der Kinder und andere Ursachen können Auslöser für ausweglos erscheinende Krisen sein.
Häufig haben Familien jedoch mehr Ressourcen zur Verfügung, als sie es in ihrer Bedrängnis wahrnehmen. Es gibt Nachbar:innen, die Unterstützung anbieten könnten, Freund:innen, die mit etwas Abstand auf die Sache blicken und einen nützlichen Rat hätten oder Menschen im Familienkreis, die die Fähigkeit besitzen zu vermitteln. Die Idee des Familienrats ist es, diese Ressourcen zu nutzen und ein unterstützendes Netzwerk um eine Familie zu bilden.
Was ist ein Familienrat?
Ein Familienrat ist ein Verfahren zur Lösungsfindung in schwierigen Lebenssituationen. Die Familie lädt zu einem vorbereiteten Treffen ein, bei dem alle Teilnehmenden gemeinsam überlegen, was oder wer helfen kann, welche Strategien sinnvoll sind und wie ein zufriedenstellender Ausweg für die Familie zustande kommen kann. Im Mittelpunkt steht dabei immer, dass eine möglichst gute Lösung für die Kinder gefunden wird.
Was unterscheidet den Familienrat von einem
Familientreffen?
Ein Familienrat wird von der Familie gemeinsam mit einem/einer Familienrat-Koordinator:in vorbereitet und findet dann, unterteilt in drei Phasen, nach einem bestimmten Ablauf und mit vereinbarten Gesprächsregeln statt:
Nach einer Begrüßungsrunde beginnt die Informationsphase in der die Situation geschildert und die Fragestellung vorgestellt wird. Zusätzlich können Fachkräfte anwesend sein, die über externe Unterstützungsmöglichkeiten informieren. Liegt eine Mindestanforderung des Jugendamts vor, wird diese hier noch einmal benannt.
In der privaten Familienzeit ist die Familie unter sich, um die Fragestellung ausführlich zu diskutieren und sich der Lösungsfindung zu widmen. Hat die Familie lange genug beraten, erstellt sie gemeinsam einen Plan, mit dem alle einverstanden sein müssen.
Dieser Plan wird in der dritten Phase, der Konkretisierungsphase der Koordinatorin oder dem Koordinator vorgestellt. Alle Beteiligten prüfen gemeinsam, ob die Beschlüsse für die Umsetzung ausreichend konkret formuliert sind. Der Plan wird von den Koordinatorinnen und Koordinatoren akzeptiert und nie bewertet. Die Aufgabe zu überprüfen, ob gegebenenfalls eine Mindestanforderung erfüllt ist, liegt bei der Fachkraft des Jugendamts.
Wie wird ein Familienrat vorbereitet?
Hat eine Familie einen Familienrat in Auftrag gegeben, kontaktiert eine Familienrat-Koordinatorin oder ein -Koordinator die betroffenen Personen, um sie bei der gesamten Vorbereitung zu begleiten. Bei mehreren persönlichen Treffen wird besprochen, welche Problem- oder Fragestellung die Familie bearbeiten möchte, wer teilnehmen soll und wo der Rat stattfinden wird. Die Entscheidungen hierüber treffen die Beteiligten selbst. Die Familie soll einen aktiven Part bei der Vorbereitung einnehmen und von der Koordinatorin oder dem Koordinator nur unterstützt werden. Das kann für manche Familien herausfordernd sein, ist aber für einen selbstbestimmten Familienrat wichtig.
Steht die Gästeliste fest und haben die Gäste ihr Einverständnis zur Kontaktaufnahme gegeben, trifft sich die Koordinatorin oder der Koordinator mit allen Teilnehmenden einzeln, um den Ablauf des Familienrats sowie die Fragestellung zu erklären. In diesen Vorgesprächen überlegen die Teilnehmenden bereits, welche Informationen aus ihrer Sicht wichtig sind und beim Rat eingebracht werden sollten, was sie sagen möchten und ob sie dazu in der Lage sind oder vielleicht eine Person zur Unterstützung brauchen. Es soll sichergestellt sein, dass allen Teilnehmenden bereits vor dem Familienrat alle relevanten Informationen bekannt sind und es während des Rats keine Überraschungen gibt. Die Vorbereitung dient dazu, dass sich die Familie und ihre Gäste während des Familienrats wohl und sicher fühlen und alles thematisiert werden kann, was für eine konstruktive Lösungssuche wichtig ist.
Die Koordinatorinnen und Koordinatoren sind dabei in ihrer Haltung neutral, sie arbeiten unabhängig und behandeln alle Gespräche vertraulich.
Was ist das Ergebnis?
Die Fragestellung scheint anfangs oft klar zu sein. Im Laufe der Vorbereitungen kann sich für die Familie jedoch herausstellen, dass diese erweitert oder abgeändert werden muss. Die Überlegung „Was brauchen wir, damit es ein guter Familienrat wird?“ führt dazu, dass Hürden erkannt werden und der Familie bewusst wird, ob zusätzliche Informationen für die Lösungssuche hilfreich wären oder bestimmte Gegebenheiten im Vorfeld noch zu klären sind.
Manchmal zeigt es sich dann, dass man in kleineren Schritten als zunächst angenommen, vorgehen muss und während des Familienrats vielleicht ein erster Lösungsansatz erarbeitet wird, der später in einem Folgerat oder auch in einem dann eigenständig organisierten Treffen weiterentwickelt werden kann.
Das Erleben von Selbstwirksamkeit, Partizipation an Entscheidungen, die das eigene Leben betreffen, sowie die Erfahrung, von einer Gemeinschaft unterstützt zu werden, bildet eine andere Grundlage als ein Plan, der von außen an eine Familie herangetragen wird. Obwohl es manchmal vorkommt, dass Familienräte in der Vorbereitungsphase seitens der Betroffenen abgebrochen werden oder keine Einigung auf einen Plan erzielt werden kann, habe ich die Erfahrung gemacht, dass die meisten Familien gestärkt aus einem Familienrat hervorgehen.
Susanne Schöninger-Simon
(Familienrat-Koordinatorin)
Die Koordination eines Familienrats ist für Familien kostenlos.
Weitere Informationen:
Landeshauptstadt Stuttgart
Jugendamt
FamilienRat-Büro
www.stuttgart.de/familienrat
heike.hoer@stuttgart.de
Telefon: 0711 216-55322
